
Manchmal denkt man ja: „Ich spring nur kurz zum Supermarkt.“
Ein Satz, der harmlos klingt. Wie: „Ich atme kurz ein.“ Oder: „Ich schau nur mal, wie teuer Ferienwohnungen in Südtirol sind.“
Drei Stunden später steht man dann schwitzend zwischen den Kühlregalen, hält eine matschige Salatgurke in der Hand und fragt sich, wann genau man die Kontrolle über sein Leben verloren hat.
Das ist kein Einkauf.
Das ist ein Initiationsritus.
Kapitel 1: Die Parkplatz-Apokalypse
Es fängt, wie jedes Desaster, ganz harmlos an: Der Parkplatz.
Ich wohne in einem Stadtteil, in dem es mehr SUVs gibt als Quadratmeter. Jeder hat Angst, fünf Meter zu laufen, also fahren sie alle exakt bis vor den Eingang. Parken wird hier mit der Präzision eines Tankmanövers in der Raumfahrt durchgeführt – und mit der Geduld einer wütenden Wildsau.
Da ist der Typ, der seinen 300-PS-Kotzbrocken quer auf zwei Behindertenparkplätze stellt („Bin ja gleich wieder da.“).
Die Rentnerin, die rückwärts einparkt. In Echtzeit. Und alle gucken zu, weil sie Angst haben, dass sie dabei einen Radfahrer einwickelt.
Und ich, der sich denkt: „Komm, ich stell mich einfach zwei Straßen weiter. Bewegung ist gesund. Vielleicht find ich dort auch mein Seelenheil.“
Spoiler: Ich fand nur Hundekot und ein achtlos weggeworfenes Nutella-Brötchen.
Kapitel 2: Der Eingang – ein sozialer Härtetest
Ich betrete den Supermarkt. Und werde sofort von einer 20 Meter langen Schlange überrascht, die aussieht wie der Beginn einer Katastrophenübung.
Waren das früher mal Kunden? Oder stehen die für kostenlose Organspende-Gutscheine an?
Nein. Es ist: der Pfandautomat.
Ein einziger. Für rund 128.000 Einwohner. Okeeee, die sind nicht alle in diesem Stadtteil zu finden, aber ihr versteht was ich meine.
Ein Mann vor mir hat drei große Säcke voller Flaschen. Ich rechne hoch: Wenn er pro Flasche drei Sekunden braucht, bin ich am Mittwoch dran. Es ist Dienstag. Und Urlaub möchte ich nicht unbedingt nehmen.
Ich weiche aus. Gehe rechts vorbei. Und werde sofort angerempelt von jemandem, der lautstark „ALTER!!“ ruft und seine AirPods durch den Supermarkt trägt wie eine Krone aus Unsicherheit.
Kapitel 3: Die Einkaufswagenhölle
Früher waren Einkaufswagen einfach nur Einkaufswagen.
Heute sind sie fahrende Zitate aus Kafka.
Ich erwische natürlich den einen Wagen, der ständig nach links zieht. So sehr, dass ich irgendwann neben der Avocado-Auslage stehe, obwohl ich eigentlich nur O-Saft aus dem Kühlregal wollte.
Eine Frau rammt mir von hinten ihren Wagen in die Achillesferse. „Sorry“, sagt sie. Und meint: „Geh mir aus dem Weg, du unförmiger Einkaufsversager.“ Naja oder so ähnlich. Eventuell.
Kinder schreien, Leute telefonieren laut („Nee, die Karenzzeit gilt auch bei spontaner Verspätung, hat er gesagt…“), und ich frage mich, ob ich wirklich wegen drei Dingen hier rein bin.
Spoiler: Nein. Es waren sieben. Aber da wusste ich noch nicht, dass ich auf dem Weg zur Kasse zwölf weitere Dinge brauchen werde, von denen ich vorher nicht mal wusste, dass sie existieren.
Kapitel 4: Die Jagd nach dem guten Müsli
Ich möchte Müsli kaufen. Klingt einfach.
Ist aber eine Wissenschaft.
Es gibt Müsli mit Chia, ohne Zucker, mit Zucker, aber ohne Freude, glutenfrei, laktosefrei, frei von Hoffnung, vegan, ayurvedisch, mit Protein, mit Insekten, mit Einhornstaub.
Ich stehe da wie Frodo am Schicksalsberg. Neben mir ein junger Mann, der seit zehn Minuten einen Riegel studiert. Ich glaube, er hat das Verfallsdatum gegoogelt.
Ich greife nach einem „Knusper-Dinkel mit Superfrüchten“ und höre ein verächtliches Schnauben von einer Dame mit Fairtrade-Siegeln im Auge.
Ich möchte einfach nur Kohlenhydrate. Und keine Moral-Diskussion über Palmöl.
Kapitel 5: Das Kühlregal der Gefühle
Ich will Käse.
Aber nicht irgendeinen. Sondern den, den ich beim letzten Mal gekauft habe, der so lecker war, dass ich kurz dachte, ich könne vor Freude die ganze Welt umarmen.
Aber er ist weg. Stattdessen gibt es 92 andere Sorten. Alle mit Begriffen, die wie Liebesromane klingen: „Feine Scheiben“, „Milde Harmonie“, „Würzige Leidenschaft“.
Ich bin überfordert. Und friere.
Weil das Kühlregal aussieht wie ein norddeutscher Strandtag – nur ohne Möwen, aber mit innerer Leere.
Kapitel 6: Kasse 3 schließt – und mein Nervenkostüm auch
Ich habe alles. Also fast.
Wahrscheinlich hab ich drei Dinge vergessen, aber das werde ich eh erst zuhause merken.
Ich stelle mich an Kasse 3 an. Sie ist kurz. Ein Zeichen des Schicksals?
Nein. Kasse 3 schließt. Natürlich.
Kassiererin schaut mich an, als hätte ich gerade in ihre Seele gespuckt.
Ich wechsle zu Kasse 1. Hinter mir reiht sich halb Osteuropa ein.
Vor mir: Eine Frau mit 74 Coupons, 3 Sonderaktionen und einem Gesprächsbedarf, der die Kassiererin an die Grenzen ihrer Menschlichkeit bringt.
Hinter mir: Atmende Verachtung.
Neben mir: Eine Aktionsfläche mit Dingen, die niemand braucht – aber ich jetzt plötzlich unbedingt.
Kapitel 7: Ich wollte nur schnell…
Als ich endlich draußen bin, hab ich 142 Euro ausgegeben für Sachen, die ich teilweise nicht kenne.
Ich bin emotional erschöpft. Körperlich durch.
Mein Einkaufswagen rollt plötzlich zurück. Ich renn ihm hinterher wie ein schlecht gelaunter Olympionike.
Im Auto denke ich: Das war doch nicht normal.
Ich wollte doch nur schnell einkaufen.
Jetzt brauch ich eine Therapie.
Oder wenigstens einen Schnaps.
Das Ding is:
Wir lachen über den Irrsinn des Alltags, über Einkaufswagen mit Eigenleben und über Rentner mit Rennlizenz – und das ist auch gut so. Aber hinter all dem steckt etwas Tieferes: Wir leben in einer Welt, die uns mit ständiger Reizüberflutung, Konsumdruck und überdrehtem Tempo überfordert. Selbst einfachste Dinge wie Einkaufen werden zu Prüfungen – nicht, weil es uns materiell an etwas fehlt, sondern weil es uns an Ruhe, Gelassenheit und gegenseitigem Respekt mangelt.
Vielleicht brauchen wir nicht die nächste Supermarktaktion, sondern einen Moment, in dem wir uns bewusst machen: Niemand hat es leicht. Nicht die Mutter mit schreiendem Kind. Nicht der Kassierer am Limit. Nicht mal der nervige Typ mit dem Couponheft.
Ein bisschen mehr Geduld. Ein bisschen mehr Humor. Und vielleicht ein Einkaufszettel, der nicht auf einem alten Kassenzettel aus 2022 steht – das wäre schon ein Anfang.
Herzlichst,
euer Mike Hardel