
Früher fragte man Kinder: „Was willst du mal werden?“ Und dann kamen Antworten wie: „Tierarzt“, „Astronaut“ oder – bei besonders wagemutigen – „Lehrer an einer Brennpunktschule“. Heute lautet die Antwort eher: „Berühmt“. Wie? Egal. Hauptsache Fame, Follower, Filter. Und wer’s ganz wild treibt, sagt: „Influencer“ – mit einem Gesichtsausdruck, der irgendwo zwischen Stolz, Verwirrung und gesponsertem Matcha-Tee schwebt.
Der Begriff „Beruf“ hat sich in den letzten Jahren einer Art spirituellen Transformation unterzogen. Früher bedeutete es: morgens raus, abends platt, dazwischen Arbeit. Heute: morgens Content, mittags Reel, abends Kommentarspalte löschen. Beruf? Pff. Berufung!
Vom Beruf zur Berufung zur Brand
Wer heute was auf sich hält, hat keine Karriere – er hat eine Marke. Und diese Marke trägt Namen wie: „@Lena.Lifestyle“ oder „RealTalkRobin“, manchmal auch „Mr_Finance_Tipps24“. Sie promoten alles: von Proteinpulver bis hin zu nachhaltigen Duftkerzen aus recycelten Bienen – oder so ähnlich. Und sie tun das mit einer Ernsthaftigkeit, mit der früher nur öffentlich-rechtliche Wetterfrösche über Tiefdruckgebiete gesprochen haben.
Der klassische Werdegang: 1. Schule abbrechen (aber mit Story!) 2. Drei Monate Bali (wegen „Selbstfindung“) 3. Erstes virales Reel („Ich hab geweint, als ich das aufgenommen hab“) 4. Kooperation mit Zahnbleaching-Startup 5. Masterclass geben über „Erfolg im Netz“ 6. Burnout (optional, aber karrierefördernd)
Zwischen Avocado-Toast und Amazon-Link
Der moderne Influencer lebt – angeblich – von Authentizität. Also von einer sehr gut kuratierten, weichgefilterten, 17-mal überarbeiteten Version davon. Die Küche sieht aus wie aus einem schwedischen Katalog, obwohl sie in einer 23-Quadratmeter-Bude in Bochum steht. Der Körper ist top in Form – dank veganem Lifestyle und zwölf Filter-Presets. Und das Lächeln? Gesponsert von Dr. Smile. Natürlich alles „unbezahlte Werbung“, weil man ja so unabhängig ist.
Früher hieß es: „Was der Bauer nicht kennt, das frisst er nicht.“ Heute heißt es: „Was der Algorithmus nicht pusht, existiert nicht.“
Und was ist mit den Wirten?
„Wer nichts wird, wird Wirt“ – ein Spruch, der vermutlich in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts zum letzten Mal ernst gemeint wurde. Denn heute weiß jeder: Wirt sein ist Knochenarbeit. 15-Stunden-Tage, betrunkenes Publikum, Hygienekontrollen mit Endgegner-Charakter. Wer heute noch Kneipe macht, hat entweder ein Herz aus Gold oder ein Immunsystem aus Titan.
Im Vergleich dazu ist Influencen ein Wellnessurlaub. Man spricht in Kameras, bearbeitet sich hübsch und behauptet dann, man „arbeite 24/7“. Wobei das meiste davon daraus besteht, nicht auf Nachrichten zu antworten, aber Insta-Stories zu posten. Klar. Jeder hat’s schwer.
Karriereberatung 2025: Zwischen TikTok und Toastbrot
Karriereberater stehen heute vor völlig neuen Herausforderungen. Früher musste man Schüler aufklären über Ausbildungsberufe, Studium, Lebensläufe. Heute: „Was willst du werden?“ – „Ich will nur reisen und dabei reich werden.“ – „Also… Drogenkurier oder Influencer?“ – „Wieso oder?“
Die Realität sieht leider oft so aus: 3.000 Euro für ein Online-Coaching bezahlt, um zu lernen, wie man anderen ein Online-Coaching für 3.000 Euro verkauft. Kapitalismus war noch nie so elegant.
Der Influencer als Gottheit der Gegenwart
Influencer sind nicht einfach nur Menschen – sie sind Projektionsflächen. Für Sehnsüchte, Komplexe und Konsumwünsche. Sie zeigen uns, wie wir wären, wenn wir nicht wir wären. Mit anderen Worten: Wenn wir hübscher, reicher, gelassener und permanent auf Reisen wären. Oder zumindest so tun könnten, als ob.
Und ganz ehrlich: Wer würde nicht gern morgens mit „Hey ihr Süßen, ich hab heute wieder soooo viele Nachrichten von euch bekommen…“ starten – auch wenn keiner geschrieben hat? Die Influencerwelt ist ein Universum der performativen Zuwendung. Ein digitaler Streichelzoo für unser Bedürfnis, gesehen zu werden.
Der Wirt und der Influencer – ein Vergleich
Kriterium | Wirt | Influencer |
---|---|---|
Arbeitszeit | 12–16 Std. am Stück | 24/7 auf dem Papier, 2 Std. real |
Stressfaktor | Besoffene, Ordnungsamt, Lieferschwierigkeiten | Algorithmus, Shadowban, Kommentare von Uwe47 |
Einkommen | Wankelmütig | Auch. Aber mit mehr Rabattcodes |
Gesellschaftliche Anerkennung | „Macht was für die Gemeinschaft“ | „Macht was für die Klicks“ |
Was wir daraus lernen?
Nichts. Gar nichts. Denn morgen ist wieder Montag, und irgendjemand erklärt uns, wie wir in 3 einfachen Schritten „finanziell frei“ werden – mit nur einer Powerpoint-Präsentation und einem emotionalen TikTok-Sound.
Aber hey: Wenn’s nicht klappt, kann man immer noch Wirt werden. Oder eine Petition starten, dass die Gesellschaft einem einfach nicht den Fame gönnt.
Das Ding is
Influencer sind kein neues Phänomen – sie sind nur die digitalisierte Version eines uralten Bedürfnisses: gesehen, bewundert und bestätigt zu werden. Der Unterschied ist, dass heute jeder zum Sender werden kann – und damit auch zum Produkt. Zwischen Storyviews und Sponsordeals verlieren wir oft den Blick dafür, was echte Arbeit bedeutet. Und echte Verantwortung. Das bedeutet nicht, dass alle Influencer oberflächlich sind. Aber der Trend zur Selbstvermarktung in jedem Lebensbereich hat Konsequenzen: für unsere Wahrnehmung von Arbeit, von Erfolg – und letztlich von uns selbst.
Vielleicht sollten wir öfter mal wieder Menschen bewundern, die echten Mehrwert schaffen: Die Krankenschwester, die Müllabfuhr, den alten Wirt mit seinem Bierbauch und warmen Worten. Die posten selten – aber sie bewegen täglich mehr als so mancher, der dafür Likes kassiert.
Herzlichst, euer Mike Hardel
Diskutieren erwünscht: Hat der Influencer-Boom mehr gebracht als schöne Selfies und Rabattcodes? Oder brauchen wir neue Vorbilder? Schreib’s in die Kommentare!