
Es ist ein schöner Nachmittag in Deutschland. Auf dem Spielplatz werden noch echte Sandburgen gebaut, in der Kita gibt’s Obst statt Gummibärchen, und in der Grundschule malen Kinder bunte Bilder – von Einhörnern, Regenbögen oder wie sie bei TikTok geliked werden, während ein nackter Fremder im Chat „Süßes Lächeln“ schreibt. Willkommen in der modernen Kindheit, wo Bildung und Bedrohung auf dem gleichen Bildschirm stattfinden.
Wir sind stolz auf unsere digitale Welt. Wir feiern das erste eigene Tablet wie andere den ersten Schultag. Wir kaufen unseren Kindern Smartphones, bevor sie lesen können – und wundern uns, wenn irgendwann ein 42-jähriger „Leon“ in der Chatgruppe nachfragt, ob man sich nicht auch mal allein treffen will. Aber keine Panik – das Kind kennt sich ja aus. Hat ja schon mit acht gelernt, was ein Algorithmus ist. Medienkompetenz, yay!
Und während wir den Kleinen beibringen, wie man PowerPoint benutzt, vergessen wir zu erklären, dass ein Mann mit Bart im Minecraft-Avatar vielleicht nicht wirklich elf Jahre alt ist. Aber das wäre ja anstrengend. Und wer hat schon Zeit für Erziehung, wenn’s doch Apps gibt, die das Kind für eine Stunde ruhigstellen?
Cybergrooming – ein Verbrechen mit WLAN-Anschluss
Cybergrooming – klingt technisch, ist aber erschreckend menschlich. Es meint, wenn Erwachsene online Kontakt zu Kindern aufnehmen, um sie sexuell zu manipulieren. Früher hätte man das einfach Pädophilie genannt. Heute klingt es moderner, weil wir’s nicht mehr sehen wollen. Der Missbrauch hat nur das Medium gewechselt – nicht die Abgründe. Und während Eltern stolz das neue iPhone ihres Zehnjährigen posten, sitzen irgendwo Männer (und ja, es sind meistens Männer) in dunklen Zimmern, scrollen durch Profile, sammeln Informationen, schreiben Nachrichten. Immer höflich. Immer freundlich. Immer gefährlich.
Aber wir reden nicht darüber. Es stört das bunte Familienbild. Es kratzt an der Illusion, dass moderne Eltern immer alles im Griff haben. Es kratzt daran, dass Schule, Politik und Gesellschaft sich doch so viel Mühe geben. Tablets, WLAN, interaktive Whiteboards – alles da. Nur kein Schutzschild gegen menschliche Abgründe.
Digitale Erziehung? Hauptsache der Akku hält
Viele Eltern wissen gar nicht, wie viele Plattformen ihre Kinder nutzen. Sie kennen WhatsApp, vielleicht noch Instagram – aber Discord, Snapchat, Kik oder Chat-Tools in Spielen wie Roblox, Fortnite oder Minecraft? Fehlanzeige. Da darf der Kleine „eine halbe Stunde zocken“, und in dieser Zeit erklärt ihm ein Fremder, wie toll seine Stimme ist. Und wenn er das nächste Mal die Kamera einschaltet, ist das Kind schon mittendrin – in einer Welt, aus der es kaum noch rauskommt. Denn Scham ist ein mächtiger Käfig. Und Kinder reden nicht gern darüber, wenn sie denken, sie haben etwas falsch gemacht.
Dabei ist genau das Teil der Strategie.
Cybergroomer bauen Vertrauen auf wie professionelle Verführer – mit Komplimenten, Verständnis, Aufmerksamkeit. Sie hören zu, wenn die Eltern gerade wieder keine Zeit haben. Sie fragen nach Lieblingsfarben, Hobbys, dem Namen des Kuscheltiers. Harmlos, ja liebevoll. Und während sie das Kind auf eine emotionale Ebene ziehen, auf der sich alles nach Nähe anfühlt, verschieben sie systematisch die Grenzen. Erst ein Emoji mit Herz. Dann ein Witz mit Doppeldeutung. Dann ein Bild, nur eins, bitte. „Nur für mich. Weil du mir vertraust.“
Und wenn das Kind zögert, kommt der Klassiker: Schuldumkehr. „Ich dachte, du magst mich.“ Oder Drohung: „Wenn du’s niemandem sagst, passiert nichts. Sonst krieg ich Ärger – oder du.“ So wird aus kindlichem Vertrauen eine Spirale aus Abhängigkeit, Scham und Angst. Und das Perfide daran: Das Kind glaubt, es trägt die Schuld.
Wer sich das nicht vorstellen kann, soll sich bitte mal fragen, wie viele Erwachsene auf Tinder auf Fakeprofile hereinfallen – und dann erwarten, dass ein Zehnjähriger die perfiden Spielchen eines Mannes erkennt, der seit Jahren trainiert, wie man sich kindgerecht verstellt.
Fall Ayleen: Wenn das Netz tödlich endet
Sommer 2022. Die 14-jährige Ayleen aus Gottenheim lernt einen Mann im Netz kennen. Er wirkt nett. Er hört zu. Schreibt regelmäßig. Sie fühlt sich verstanden. Dann verabreden sie sich.
Was danach passiert, ist kein Unfall. Kein Missverständnis. Es ist Mord.
Der Täter hatte sie manipuliert, Monate lang. Und am Ende nahm er ihr nicht nur das Vertrauen – sondern das Leben. Die Geschichte war kurz in den Medien. Dann wurde sie verdrängt. Beerdigt. So wie Ayleen.
Doch der Mann war kein Einzelfall. Er war ein Symbol. Für ein System, das Kinder nicht schützt – weil es sie nicht ernst nimmt.
Die Zahlen – und das, was zwischen den Zeilen steht
2024 zählte die Polizeiliche Kriminalstatistik 3.457 Fälle von Cybergrooming in Deutschland. Ein Jahr zuvor waren es 2.580. Ein Anstieg um über 30 Prozent.
Doch das sind nur die gemeldeten Fälle. Das Dunkelfeld? Riesig. Die meisten Kinder sagen nichts. Aus Scham. Aus Angst. Aus Verwirrung. Oder weil sie gar nicht wissen, dass das, was da passiert ist, ein Verbrechen war.
Eine Studie der Landesanstalt für Medien NRW aus 2021:
24 % der befragten Kinder und Jugendlichen wurden online schon von Erwachsenen nach einem Treffen gefragt. Fast jeder vierte.
Und die Plattformen? Keine Überraschung:
TikTok. Instagram. Snapchat. WhatsApp. Discord. Chatfunktionen in Spielen. Orte, an denen Kinder sich wohlfühlen – und Erwachsene alles tun, um sich dort ebenfalls einzunisten.
Vertrauen ist gut – Kontrolle ist elterliche Pflicht
Es ist grotesk: Wir sperren Alkohol in Schränke, verbieten Horrorfilme unter 16 – aber geben einem Neunjährigen ein Gerät, das unkontrolliert Zugriff auf Gewalt, Pornografie, Chatrooms und Deepfake-Tools hat. Und weil’s so schön ist, bekommt er noch kabellose Kopfhörer dazu. Der Sound des Untergangs, in Stereoqualität.
Manchmal fragt man sich, ob das alles wirklich Naivität ist – oder einfach Bequemlichkeit. Es ist halt praktischer, wenn das Kind mit dem iPad ruhig ist. Es ist praktischer, wenn man nicht erklären muss, warum gewisse Apps nicht in Kinderhände gehören. Und es ist verdammt praktisch, wenn man die Verantwortung auf „das Internet“ schieben kann. Oder auf die Politik. Oder die Schule. Oder die anderen Eltern.
Dabei beginnt Schutz dort, wo Nähe herrscht. Kinder, die ernst genommen werden, die sich gesehen fühlen, die Vertrauen erleben – sind weniger anfällig für Manipulation. Das schützt nicht immer. Aber es hilft. Mehr jedenfalls als ein Jugendfilter, den man mit zwei Klicks umgehen kann.
Zwischen TikTok-Tanz und Täterkontakt
Cybergrooming ist kein Einzelfall. Es ist ein Systemfehler. Es passiert täglich. Stündlich. In jedem sozialen Netzwerk, in jedem Online-Spiel, auf jedem Schulhof der digitalen Welt. Und solange wir so tun, als sei das eine Randerscheinung, solange wird sich nichts ändern. Außer vielleicht das Alter der Opfer – nach unten.
In den Kommentarspalten liest man dann oft: „Früher gab’s das auch.“ Ja, sicher. Früher gab’s auch Pest und Prügelstrafe. Ist trotzdem nicht unser Ziel. Der Unterschied ist: Früher konnte man dem Täter nicht jeden Tag einen direkten Draht ins Kinderzimmer legen. Heute schon. Und wir bauen diesen Draht selbst. Mit Vertrag, Garantie und elterlicher Unterschrift.
Das Ding is:
Cybergrooming ist nicht die Schuld des Internets. Es ist das Produkt einer Gesellschaft, die zwar Digitalisierung predigt, aber dabei die Seele des Kindes vergisst. Einer Gesellschaft, die lieber Technik verteilt als Werte. Die lieber WLAN-Passwörter teilt als Zeit.
Wir müssen den Mut aufbringen, wieder unbequeme Fragen zu stellen. Und ehrliche Antworten zu geben. Warum hat dein Kind ein Smartphone? Weißt du, was es damit macht? Mit wem es schreibt? Was es sieht? Und was es dabei fühlt?
Wenn wir Kinder schützen wollen, müssen wir bereit sein, auch gegen den Strom zu schwimmen. Gegen den Mainstream, der frühere Aufklärung fordert, aber spätere Verantwortung lebt. Gegen eine Kultur, die sich in Toleranz kleidet, aber Wegsehen meint.
Wir können nicht jeden Täter stoppen. Aber wir können verhindern, dass Kinder allein sind. Im echten Leben. Und im digitalen.
Herzlichst,
euer Mike Hardel
Was meinst du: Ab welchem Alter sollte ein Kind ein Smartphone haben? Und wer trägt die Verantwortung, wenn es schiefgeht? Diskutier mit mir – aber bitte mit echten Argumenten, nicht mit Emojis.
Quellen:
Polizeiliche Kriminalstatistik 2024 – polizei-beratung.de
Fall Ayleen (2022) – swr.de