
Deutschland liebt Ordnung. Wir haben Mülltrennung in 47 Kategorien, zwei Sorten Klopapier für unterschiedliche Hauttypen – und das tief verwurzelte Bedürfnis, moralisch überlegen zu sein, solange niemand nachfragt. Und darum steht fest: Wer schwarzfährt, gehört bestraft. Streng. Unnachgiebig. Am besten sofort. Ein Ticket vergessen? 60 Euro Strafe. Drei Mal erwischt? Gefängnis. Weil: „Sonst würde ja jeder…“ Und da hört der Spaß auf. Außer man heißt nicht Kevin, sondern Karl-Heinz, trägt Maßanzug und sitzt zufällig an einem Gesetzesentwurf mit. Dann ist man nicht straffällig, sondern „gut vernetzt“.
Die Justiz trägt Scheuklappen – aus Designerstoff
Ein junger Mann ohne Ticket wird kontrolliert. Drei Stationen später ist sein Leben auf dem Weg Richtung Mahnbescheid, Gericht, Knast – powered by §265a StGB. Parallel dazu telefoniert ein Lobbyist mit einem Bundestagsabgeordneten. Sie besprechen einen Gesetzesentwurf, der zufällig Steuervorteile für eben jene Branche enthält, aus der der Lobbyist stammt. Reiner Zufall. Logisch. Und vor allem: völlig legal. Weil das eine ein Diebstahl von 3,20 Euro ist. Und das andere? Ein strukturierter Griff in den Gesellschaftsvertrag. Aber mit Briefkopf.
Die neue Einheit für Kriminalität: Sichtbarkeit
Schwarzfahren ist greifbar. Man kann es kontrollieren, bestrafen, öffentlich empören. Lobbyismus ist abstrakt. Und da wird’s in Deutschland immer gemütlich. Abstrakte Skandale verschwinden bei uns irgendwo zwischen Föderalismus und Fußnoten. Ein Schwarzfahrer stört. Ein Lobbyist sponsert das Buffet.
Wirtschaftsnähe oder strukturelle Bestechlichkeit?
Lobbyisten sind nicht per se das Problem. Das Problem ist, dass sie Zugang haben – und andere nicht. Wer Geld, Zeit und Netzwerke hat, darf an Gesetzen mitdenken. Wer kein Ticket hat, fliegt raus. Es ist ein bisschen so, als würdest du zu einer öffentlichen Diskussionsrunde eingeladen – aber nur, wenn du vorher 10.000 Euro gespendet, fünf Gutachten bezahlt und ein Golfturnier veranstaltet hast. Willkommen in der „repräsentativen Demokratie“.
Und wer schützt uns vor der Gerechtigkeit?
Unsere Justiz ist blind – aber nicht taub. Sie hört auf Druck. Auf Empörung. Auf Schlagzeilen. Ein Schwarzfahrer kann keine PR-Agentur beauftragen. Ein Lobbyist schon. Und er bekommt dafür sogar Applaus. „Unternehmensnah“ heißt es dann. Oder „praxisorientiert“. Nie: „ziemlich offensichtlich gekauft“.
Eine kleine Typologie des Ticketvergehens
- Gelegenheitsschwarzfahrer: Vergisst sein Ticket, wird kontrolliert, schämt sich.
- Systemsprenger mit Monatskarte: Hat ein Abo, aber keine Lust, es vorzuzeigen. Philosophisch motiviert.
- Karrierekrimineller: Fährt regelmäßig ohne Fahrschein. Dreimal erwischt = Justizvollzugsanstalt.
- Politischer Überzeugungstäter: Fährt schwarz, weil er das System verachtet. Gibt es wirklich. Nennt sich dann „Aktionskunst“.
- Lobbyist mit Firmenwagen: Fährt nie Bahn. Hat aber dafür gesorgt, dass Bahntickets teurer werden.
Ein Staat, zwei Maßstäbe
Warum reagieren wir so allergisch auf Schwarzfahrer – aber so verständnisvoll auf Lobbyisten? Vielleicht weil der eine unsere Regeln bricht, während der andere sie schreibt. Vielleicht auch, weil Kontrolleure keine Hausdurchsuchungen in Ministerien machen. Oder weil der Maßanzug besser sitzt als die Wahrheit.
Wenn Gesetzestreue ein Geschäftsmodell wird
In Deutschland kannst du dir mit genug Geld vieles kaufen: Beraterverträge, Studien, öffentliche Meinung. Aber Gerechtigkeit? Die wird verteilt wie Weihnachtsgebäck im Discounter: zuerst an die Großen, dann an die Lauten, dann an die restlichen 80 Millionen.
Ein Fallbeispiel zur allgemeinen Erheiterung
Angenommen, du willst als normaler Mensch Einfluss auf ein Gesetz nehmen. Du schreibst eine E-Mail an dein Bundestagsbüro. Antwort: „Vielen Dank, wir haben Ihre Nachricht zur Kenntnis genommen.“ Übersetzung: „Abgelegt unter SPAM – sozialpädagogisch angemahnte Meinung.“
Ein Lobbyist hingegen ruft an, trifft sich beim Italiener, überreicht eine Analyse, organisiert einen Fachdialog. Ergebnis: Ein Halbsatz im neuen Gesetz, der Millionen spart. Für die Firma. Nicht für dich.
Die Pointe der Demokratie: Der Preis entscheidet
Der Staat funktioniert wie eine U-Bahn: Wer kein Ticket hat, muss raus. Aber wer den Schaffner kennt – oder gleich das Streckennetz gekauft hat – darf entscheiden, wohin es geht. Und wer ein Gesetz ändert, weil es ihm passt, handelt nicht illegal. Sondern „nachhaltig“. Nachhaltig korrupt vielleicht, aber das ist Definitionssache.
Das Ding is:
Ein Staat, der mit aller Härte gegen den kleinen Regelverstoß vorgeht, aber dem großen strukturellen Einfluss nichts entgegensetzt, verliert die moralische Autorität, Recht durchzusetzen. Nicht der Schwarzfahrer zerstört das Vertrauen in den Rechtsstaat. Sondern das Wissen, dass Gesetze verhandelbar sind – wenn man nur die richtigen Leute kennt. Es braucht kein System ohne Lobbyismus. Es braucht ein System, in dem Einfluss sichtbar, reguliert und ausgewogen ist. Und es braucht Gerechtigkeit, die nicht fragt: „Wie teuer war dein Anzug?“ – sondern: „Wie gerecht ist dein Handeln?“ Bis dahin? Vielleicht sollten wir Kontrolleure mal mit in den Bundestag schicken.
Herzlichst, euer Mike Hardel
Diskutiere mit: Was ist für dich schlimmer – ein fehlendes Ticket oder ein gekauftes Gesetz? Ich bin gespannt auf deine Sicht!