
Ich wollte nur schnell Milch holen.
Wirklich. Kein Abenteuer. Kein gesellschaftlicher Selbstversuch. Kein Maskenkrieg. Einfach nur: Milch.
Aber wie das Leben so spielt, stand ich plötzlich nicht mehr vor dem Kühlregal – sondern mitten in einem psychologischen Feldversuch über kollektives Trauma, Alltagsparanoia und die Überreste der großen Maskenepoche.
Zwei Gestalten traten auf.
Stark. Entschlossen. Gepanzert.
Sie trugen sie wieder.
Die FFP3.
Mit Ventil. Mit Stolz. Mit dieser gewissen Aura zwischen Weltuntergangsvorbereitung und postpandemischem Catwalk.
Und nein – nicht FFP2. Nicht die Alltagsvariante für vorsichtige Bürger mit Einkaufsambitionen.
Sondern FFP3.
Die Deluxe-Edition der Apokalypse.
Die Maske für alle, denen FFP2 einfach zu… soft war.
Wer FFP3 trägt, will keine Diskussion – der will Reinraum. Und zwar im Netto.
Und ich?
Ich verwandelte mich in exakt das, was ich jahrelang verachtet hatte: einen innerlich schäumenden, vorverurteilenden, latent aggressiven Corona-Kommentator auf zwei Beinen.
Nur halt nicht auf Facebook. Sondern in Fleisch und Blut. Und leider ohne Kommentarfunktion.
Ein Filter namens Trigger
Ich weiß, was jetzt kommt:
„Aber Mike, vielleicht haben sie eine chronische Erkrankung!“
„Vielleicht sind sie Risikopatienten!“
„Vielleicht haben sie einfach nur Angst!“
Und ja – all das ist möglich. Und legitim.
Aber es ging gar nicht um sie.
Es ging um mich.
Und meine unmittelbare Reaktion, die in etwa lautete: „WAS ZUR HÖLLE?!“
Denn irgendwo zwischen Salatgurken und Nussknackerbrot stieg in mir ein uralter Bekannter auf: die Pandemie-Wut. Diese ganz spezielle Mischung aus Ohnmacht, Kontrollverlust und der leisen Panik, dass das alles nie wirklich vorbei ist.
Ich war getriggert. Vom Anblick. Vom Atemgeräusch durch die Maske. Vom eleganten Griff in die Desinfektionsmittelflasche, die sie scheinbar immer noch bei sich trugen wie andere Leute ihr Handy.
Die postpandemische Obsession
Versteht mich nicht falsch.
Ich bin ein toleranter Mensch.
Also zumindest zwischen 10:00 und 12:00 Uhr. Unter der Woche. Wenn’s nicht regnet.
Aber diese Masken… sie sind nicht einfach Masken.
Sie sind Symbole.
Und zwar von allem, was in den letzten Jahren so richtig grandios schieflief.
Sie stehen für:
– Den Irrsinn, dass Jogger alleine im Wald Masken trugen.
– Die Absurdität, dass man in Restaurants mit Maske zum Tisch ging – um sie dann beim Sprechen abzunehmen.
– Den Moment, als wir alle gelernt haben, wie ein R-Wert funktioniert – und es trotzdem nie ganz verstanden haben.
Und jetzt tauchen sie wieder auf. Wie Zombies.
Nur eben aus Stoff. Und mit CE-Zertifikat.
Ein kurzer Ausflug in meine Maskenvergangenheit
Ich war kein Held.
Ich habe sie getragen. Die OP-Maske. Die Stoffmaske mit Muster. Die selbstgenähte „Ich-bin-auch-solidarisch“-Variante. Doch FFP3? Das war mir immer zu viel. Zu militärisch. Zu Endzeit. Zu sehr: „Ich fürchte mich vor deiner bloßen Existenz“.
Ich habe gelitten. Ich habe gelitten wie ein schwitzender Rebell unter der Herrschaft der Aerosole. Und ich habe irgendwann beschlossen: Nie wieder.
Nie wieder lasse ich mir beim Atmen zusehen wie Darth Vader im Bioladen.
Und dann kamen sie. Einfach so. Mitten im Aldi.
Ich versuchte cool zu bleiben.
Ich dachte: Ignorier’s einfach. Jeder hat das Recht auf seine Panik.
Aber mein innerer Chauvinist war schneller.
Der stammelte schon im Kopf: „Was kommt als Nächstes? Handschuhe? Vollvisier? Plexiglashelm mit WLAN?“
Ich habe sie taxiert. Von oben bis unten.
Ich habe sie stumm verurteilt.
Und ich habe mich selbst dabei gehasst.
Denn – Hand aufs pumpende Herz – das ist das, was diese Jahre mit uns gemacht haben.
Wir sehen Menschen nicht mehr nur als Menschen.
Sondern als Marker. Als Symbol. Als Gefahr. Als Erinnerung.
Die FFP3-Maske als Gesellschaftsspiegel
Es gibt Dinge, die überleben Katastrophen.
Kakerlaken. IKEA-Regale.
Und offenbar: die Angst.
Die FFP3-Maske ist für mich mittlerweile kein Schutz mehr – sondern ein Mahnmal.
Ein tragbarer Rückblick auf Regeln, die sich täglich änderten.
Auf Ministerpräsidentenkonferenzen mit dem Charme von Endzeit-Thrillern.
Auf den Moment, als ich meine Tochter nicht sehen durfte – aber im Flieger nach Malle sitzen konnte.
Es ist alles noch da.
Nicht im Regal. Sondern im Kopf.
Der Maskenmann und seine Partnerin
Sie sprachen nicht.
Sie blickten nicht auf.
Sie schwebten geradezu durch den Laden – wie in einer alternativen Realität, in der Corona nie aufgehört hat.
Und ich?
Ich stand da. Mit meiner Milch.
Und fragte mich, ob ich das bin, der überreagiert – oder ob die zwei einfach vergessen haben, dass man inzwischen wieder Gesichter tragen darf.
Vielleicht war es ihr Style. Vielleicht ihr Statement.
Vielleicht auch ein soziales Experiment, bei dem ich voll reingetappt bin.
Und plötzlich verstand ich: Ich bin das Problem
Nicht die Masken.
Nicht die Menschen.
Nicht einmal die Filter.
Ich.
Ich bin der Typ, der eine Maske sieht – und sofort einen halben Roman im Kopf schreibt.
Ich bin der, der Wut empfindet, wo Verständnis angebracht wäre.
Ich bin der, der sich über andere aufregt – um nicht über sich selbst nachdenken zu müssen.
Denn tief in mir drin steckt er noch.
Der kleine, verunsicherte Lockdown-Mike.
Der, der sich in Zoom-Calls verlor.
Der, der sich fragte, ob ein Spaziergang illegal ist.
Der, der dachte, „Flatten the Curve“ sei ein Lifestyle.
Das Maskenpaar ist längst weg. Aber ich bin noch da.
Ich habe meine Milch bezahlt.
Bin rausgegangen.
Habe tief eingeatmet – ganz ohne Filter.
Und dann gelacht.
Über mich.
Über meine Überreaktion.
Und darüber, dass ich ernsthaft in Erwägung zog, ein Paar mit Maske für den Untergang des Abendlandes verantwortlich zu machen.
Das Ding is:
Wir alle haben einen Schatten davongetragen.
Ob mit Maske oder ohne.
Ob geimpft, genesen, genervt oder ganz woanders.
Und vielleicht ist es an der Zeit, diesen Schatten nicht mehr auf andere zu projizieren.
Wenn jemand FFP3 trägt, dann ist das nicht automatisch ein Angriff auf meinen Verstand.
Vielleicht ist es einfach… ein Mensch, der sich sicher fühlen will.
Oder ein Mensch, der gerade durch irgendetwas durch muss.
Oder ein Mensch, der genauso mit dem Trauma ringt wie ich – nur eben anders.
Wir sind alle beschädigt.
Aber wenn wir das anerkennen, könnten wir vielleicht aufhören, uns gegenseitig zu beschuldigen – und stattdessen einfach nebeneinander im Supermarkt stehen.
Ohne Drama.
Mit Milch.
Und gelegentlich: mit einem kleinen Lächeln unter der Maske.
Herzlichst, euer Mike Hardel
Diskutiert mit – kennt ihr diese inneren Trigger auch? Wann habt ihr das letzte Mal irrational gedacht und euch dann dabei erwischt? Kommentiert gerne, ich bin gespannt!