
Wenn Arbeit nicht zum Leben reicht – und der Chef sagt: Na und?
Man muss es sich mal auf der Zunge zergehen lassen – oder besser gesagt, auf dem leergegessenen Teller: Roland A. Müller, Direktor des Schweizerischen Arbeitgeberverbands, hat es tatsächlich gewagt. In einer Anhörung vor der Wirtschaftskommission des Schweizer Nationalrats ließ er folgenden Satz fallen, sinngemäß, aber erschreckend klar: Ein existenzsichernder Lohn ist nicht Aufgabe der Arbeitgeber.
Danke, Roland. Wirklich. Endlich spricht mal einer aus, was viele denken, aber nur Jeff Bezos und Friedrich Merz auch so leben: Wenn du von deinem Lohn nicht leben kannst, dann bist du halt falsch aufgestellt. Entweder du arbeitst härter, bescheidener oder schlicht doppelt. Alternativ kannst du natürlich auch einfach aufhören zu essen.
Kapitalismus mit Käse und Loch
Schauen wir uns das mal an: Die Schweiz. Heimat von Präzision, Pünktlichkeit und dem gefährlichsten Exportprodukt seit der Toblerone – neoliberale Ideen in Goldfolie. Roland A. Müller leitet dort den Arbeitgeberverband, also quasi das Kundenservicecenter für Leute, die glauben, Human Resources seien eine Form von Rohstoff.
Und dieser Mann sagt jetzt, dass die Wirtschaft nicht dazu da sei, existenzsichernde Löhne zu zahlen. Nein, dafür sei ja schließlich der Staat zuständig. Der müsse dann eben Sozialhilfe leisten – weil Unternehmen ja bereits durch Steuern genug beitrügen. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder kotzen soll. Wahrscheinlich beides gleichzeitig, was in etwa der emotionale Dauerzustand ist, wenn man sich länger als fünf Minuten mit Wirtschaftspolitik beschäftigt.
Arbeiten fürs Anrecht auf Sozialhilfe
Was bedeutet das konkret? Du darfst also 40 Stunden die Woche schuften, damit du anschließend einen Termin beim Sozialamt bekommst. Arbeitsvertrag und Bittstellerstatus, Hand in Hand. Und das in einem der reichsten Länder Europas, das sich gern mit Uhren, Banken und Alibi-Volksabstimmungen schmückt wie ein Teenager mit Festivalbändchen.
Aber gut, Müller hat später nachgelegt und gesagt, es sei ja wünschenswert, wenn man vom Lohn leben könne. Das ist wie ein Metzger, der sagt: „Natürlich wäre es schön, wenn das Schwein überlebt – aber Sie wissen ja, Marktlogik.“
Der große Witz: Deutschland hört mit
Ich wage kaum, das auszusprechen – aber ich hoffe inständig, dass Friedrich Merz das nicht gehört hat. Wirklich. Wenn der nämlich sowas aufschnappt, ruft er sofort seinen Lieblingspraktikanten in Brüssel an und schreit: „Können wir das nicht übernehmen? Am besten gestern?!“
Denn Friedrich, unser wandelnder Aktienkoffer mit CDU-Stempel, ist ja bekannt für seine Ideen aus der Rubrik „Mut zur Kälte“. Wenn Müller der Herr der Schweizer Uhren ist, dann ist Merz der Kuckuck, der jede halbe Stunde rauskommt und ruft: Arbeiten, ihr faulen Hunde!
Man stelle sich vor, Merz würde das Konzept übernehmen: Wer in Deutschland von seinem Lohn nicht leben kann, wird einfach „nicht-sozial-kompatibel“ eingestuft. Wer mehr will, soll gefälligst im Schlaf noch Deliveroo fahren und am Sonntag Vormittag Rentner pflegen – ehrenamtlich, versteht sich.
Der Arbeitgeber als Robin Hood in umgekehrter Richtung
Natürlich versuchen solche Aussagen immer, sich hinter wirtschaftlicher Vernunft zu verstecken. Da wird dann von „unternehmerischer Freiheit“ gesprochen und von „Wettbewerbsfähigkeit“. Als wäre es ein Naturgesetz, dass die einzige Form von Freiheit für Arbeitgeber darin besteht, ihre Angestellten auf dem Level von Mobilfunkverträgen zu behandeln: Hauptsache billig, am besten ohne Laufzeit.
Dass ein Mensch vielleicht Miete, Essen und eine kaputte Waschmaschine bezahlen muss – geschenkt. Dafür ist doch der Staat da!
Der neue Gesellschaftsvertrag: Du arbeitest, ich spare
Müllers Logik: Unternehmen zahlen keine Löhne, von denen man leben kann. Der Staat springt ein. Der Staat ist aber finanziert durch Steuern. Und Steuern zahlen… Moment… wer eigentlich?
Richtig. Alle, außer Großunternehmen, die sich ein Steuerloch in Irland gemietet haben. Und Menschen, die arbeiten. Die also aufstocken müssen, weil ihr Arbeitgeber ihnen nicht genug zahlt. Das heißt: Du zahlst Steuern, damit du dir selbst deine Miete finanzieren kannst. Über Umwege. Mit Formularen. Willkommen im neuen Perpetuum Absurdum.
Warum nicht gleich ein Preisschild an Menschen?
Wenn Arbeit nicht mehr zum Leben reicht, sondern nur noch dazu dient, sich langsam in die Insolvenz zu schuften, dann ist das nicht nur ein wirtschaftliches Problem – das ist ein zivilisatorisches Armutszeugnis. Dann ist der Mensch kein Mensch mehr, sondern nur noch betriebswirtschaftlich einsetzbares Material. Und warum da aufhören?
Warum nicht gleich ein Preisschild an Menschen? „Hi, ich bin Uwe, 42, gelernter Maurer, mit leichter Tendenz zur Existenzangst. Macht 13,20 CHF pro Stunde – aber nur ohne Gewerkschaft.“
Die Reaktionen: Von Empörung bis „Was habt ihr erwartet?“
Immerhin: Es gab Aufschrei. SP-Nationalrätin Jacqueline Badran sprach von „miesen Arbeitgebern“ und „hinterlistigen Ausbeutern“. Gewerkschaftsbund-Chef Maillard warnte, dass Arbeit sich lohnen müsse. Ja, no shit, Sherlock. Wenn sich Arbeit nicht mehr lohnt, dann lohnt sich das ganze System nicht mehr.
Aber warum müssen wir das überhaupt noch sagen? Warum stehen wir 2025 immer noch da und diskutieren, ob es gerecht ist, dass ein Mensch von seiner Arbeit leben können sollte?
Die Realität der Menschen: Kein Käse, kein Brot – nur Lohnzettel
In dieser Debatte fehlt der Blick auf die Lebensrealität derer, über die gesprochen wird. Die Kassiererin, die nach Feierabend Nudeln ohne Soße isst. Der Paketbote, der mit zwei Jobs seine Familie über Wasser hält. Die Altenpflegerin, die sich das Heizen verkneift, weil der Februar sonst das Konto sprengt.
Diese Menschen existieren. Sie sind nicht faul. Sie arbeiten. Und trotzdem reicht es nicht. Und dann kommt jemand wie Müller und sagt: „Tja, ist halt nicht unsere Aufgabe.“
Das ist, als würde ein Rettungssanitäter sagen: „Ich kann hier schlecht helfen, ich bin doch kein Feel-Good-Manager.“
Der neoliberale Dreisprung: Verantwortung abschieben, Schuld umdrehen, Empörung belächeln
Roland A. Müller macht mit seiner Aussage nur deutlich, wie weit sich manche Eliten von der Gesellschaft entfernt haben. Oder schlimmer: Wie egal ihnen diese Gesellschaft inzwischen geworden ist. Es ist die alte neoliberale Formel:
- Verantwortung abschieben.
- Schuld individualisieren.
- Empörung als naiv abtun.
Das Ganze wird dann als „ökonomische Vernunft“ verpackt und mit einem feinen Lächeln serviert, als wäre man auf einem Empfang der Weltbank und nicht mitten in einer sozialen Krise.
Das Ding is:
Wenn jemand wie Roland A. Müller ernsthaft sagt, dass existenzsichernde Löhne nicht Aufgabe der Arbeitgeber seien, dann hat er nicht nur das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft missverstanden – er hat den gesellschaftlichen Vertrag zerrissen. Arbeit darf nicht in Armut führen. Wer arbeitet, muss leben können. Punkt.
Und bevor noch mehr Ökonomen auf dumme Gedanken kommen: Vielleicht wäre es an der Zeit, dass wir als Gesellschaft festhalten, was Arbeit wirklich wert ist – nicht für den Aktionär, sondern für den Menschen. Für ein System, das nicht nach Profit, sondern nach Würde funktioniert. Auch in der Schweiz. Auch in Deutschland. Gerade jetzt.
Herzlichst, Mike
Diskutiere gern mit mir – wie siehst du das? Ist Müllers Aussage realistisch, zynisch oder einfach nur ehrlich? Schreib’s in die Kommentare!
Quellen:
- SRF (05.06.2024): Existenzsichernde Löhne – Arbeitgeber-Direktor empört mit Aussage
- Aargauer Zeitung (05.06.2024): Arbeitgeber-Boss empört mit Aussage: Existenzsichernder Lohn ist nicht unsere Aufgabe
- Blick (06.06.2024): Müllers brisante Aussage zu Mindestlöhnen
- Bluewin (06.06.2024): Der Bund will bei kantonalen Mindestlöhnen mitreden
- FR.de (06.06.2024): Schweizer Arbeitgeber provozieren mit Mindestlohn-Position