
Neulich hatte ich einen dieser Tage, an denen du dich fragst, ob das Leben ein Theaterstück ist – und du die tragikomische Nebenrolle spielst. Ich wurde innerhalb von zwölf Stunden von zwei völlig verschiedenen Menschen für rechtsextrem und linksextrem gehalten. Ich. In Personalunion. Inklusive Espresso. Nur mit Espresso ist das manchmal auszuhalten…
Das ist in etwa so, als würde dir jemand gleichzeitig sagen, du seist zu fett und zu dünn. Glückwunsch, du bist offiziell ein Paradoxon. Ein politisches Schrödinger-Wesen: gleichzeitig radikal links, radikal rechts und wahrscheinlich auch noch ein bisschen ökologisch neutralisiert. Ich bin also stolz auf mich. Endlich erkenne ich mich im politischen Spektrum nicht mehr wieder – was der sicherste Hinweis darauf ist, dass ich noch denken kann.
Früher war die Mitte ein gemütlicher Ort. Dort saß man, aß Kartoffelsalat und diskutierte beim Bier, ob die Steuererklärung ein Menschenrecht ist oder nur eine besonders perfide Form psychologischer Kriegsführung. Heute? Heute ist die Mitte ein minenverseuchter Raum zwischen den Gräben. Betrittst du ihn, explodiert garantiert jemand – meist in den Kommentaren.
Eine kurze Typologie der politischen Wahrnehmung:
- Du kritisierst hohe Migrationszahlen? – Zack, rechtsextrem.
- Du findest, das Gendern nervt? – Klarer Fall: AfD-Sympathisant.
- Du möchtest nicht, dass der Staat dir 60 % deines Einkommens nimmt? – Neoliberaler Turbo-Kapitalist. Vermutlich FDP.
- Du findest es nicht gut, dass Palästinenser bombardiert werden? – Antisemit!
- Du hast einfach nur Fragen? – Verschwörungstheoretiker!
- Du schreibst einen Blog, in dem du alles kritisierst – aber niemanden beleidigst? – Verdächtig. Wahrscheinlich beobachtet vom Verfassungsschutz. Oder – schlimmer – von der „Vereinigung der Psychiatrien“ (VdP). Die gibt’s gar nicht? Eben! Wer sich sowas ausdenkt, gehört dringend überwacht. Oder auf Tournee.
Ich erinnere mich an einen Moment in der Bahn, in dem ich über eine Aussage von Olaf Scholz nachdachte (ja, auch das passiert manchmal). Neben mir saß ein junger Typ, las ein linkes Magazin, schielte auf meinen Notizblock – und sagte dann laut: „Mit dem Blick schreiben nur Rechte.“
Zwei Stunden später beim Bäcker unterhalte ich mich mit einer älteren Dame, die sich beklagt, dass „man ja heute nichts mehr sagen dürfe“. Ich erwidere, dass Meinungsfreiheit auch bedeutet, Widerspruch zu riskieren. Sie schaut mich entsetzt an: „Sie sind doch nicht etwa links?“
Ich war an diesem Tag offenbar ein wandelnder Feindbild-Generator.
Wie Mitte zu Schwäche wurde:
Der Begriff „Mitte“ galt einst als Ausweis von Balance, Vernunft, Diskursfähigkeit. Heute klingt er in vielen Ohren wie ein Synonym für Feigheit. Wer sich nicht klar auf eine Seite schlägt, hat etwas zu verbergen. Oder keinen Rückgrat-Chip installiert bekommen.
In einer Gesellschaft, in der moralische Positionen wie Produkte auf einem Markt gehandelt werden, ist die Mitte schlecht verkäuflich. Kein klares Feindbild, keine klare Zugehörigkeit – nur Fragen, Zweifel, Grautöne. Und wer will die schon?
Zwei Begegnungen, die alles erklären:
Der Vater beim Elternabend:
Ich sagte, Integration sei keine Einbahnstraße – Erwartungen gelten für alle. Antwort: „Also doch ein rechter Hetzer!“ Ich: „Ich arbeite für einen Inklusionsverein und mir ist völlig egal wo jemand herkommt.“ Er: „Noch gefährlicher.“
Die Aktivistin Freitags beim Klimastreik:
Ich schlug vor, die Menschen auf dem Land nicht zu kriminalisieren, wenn sie auf ihr Auto angewiesen sind. Antwort: „Dann bist du Teil des Problems.“ Ich: „Vielleicht bin ich Teil der Lösung.“ Antwort: „Vielleicht bist du ein alter, weißer Mann.“ Ich: „Stimmt leider.“
Und plötzlich ist jeder radikal:
Die Frage, wo du politisch stehst, ist nicht mehr das Ergebnis einer persönlichen Auseinandersetzung mit der Welt. Sie wird dir zugewiesen – durch einen Algorithmus, ein Schlagwort, ein Like auf dem falschen Tweet.
Diskussion? Zweitrangig. Viel wichtiger: Wo kannst du einsortiert werden?
Die Mitte wird zum Mysterium. Sie ist nirgends klar definiert, aber überall verdächtig. Man unterstellt ihr, nur taktisch zu lavieren. Man misstraut ihr, weil sie nicht empört genug klingt. Und in einer Welt, die Empörung für Charakterstärke hält, wirkt alles, was differenziert, wie Verrat.
Medien und Maschinen:
Die Medien tun ihr Übriges. In Talkshows treffen längst keine Meinungen mehr aufeinander, sondern Rollen. Da sitzt die radikale Aktivistin neben dem konservativen Provokateur und dazwischen ein Moderator, der die Zündschnur hält.
Wer differenziert, fliegt raus. Wer polarisiert, bleibt im Sendeplan.
Die sozialen Medien? Sind die Crack-Pfeife der Empörung. Jeder Tweet ein Streichholz, jeder Kommentar eine Benzinpfütze. Und wehe, du sagst mal: „Ich sehe das zwiegespalten.“ Dann bist du sofort „ambiguitätsintolerant“ (ich musste auch beim ersten Mal googeln) oder – noch schlimmer – „moderat“.
Und was macht die „Mitte“?
Sie schweigt. Oder sie zieht sich zurück in Ironie, Zynismus, innere Emigration. Sie gründet Blogs mit philosophischen Anspielungen und hofft, dass jemand zwischen dem Kaffee und dem Kant noch lesen kann. (Was, zugegeben, sehr optimistisch ist.)
Aber eigentlich müssten wir laut sein. Nicht, um zu brüllen – sondern um zu sprechen. Nicht, um zu bekehren – sondern um zuzuhören. Nicht, um Rechthaber zu sein – sondern um Mitdenker zu sein, oder zu werden.
Ein letzter Test:
Wenn du diesen Beitrag gerade liest und dabei denkst:
„Manchmal stimme ich zu. Manches finde ich übertrieben. Und bei ein paar Stellen musste ich lachen, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob man das darf“ –
herzlichen Glückwunsch:
Du bist angekommen. Irgendwo in der Mitte. Zwischen Kaffee und Kant.
Das Ding is:
Wir dürfen die Mitte nicht den Lautesten überlassen – weder denen, die brüllen, noch denen, die schweigen. Die Mitte ist kein Ort für Beliebigkeit, sondern für Mut zur Nuance. Sie ist unbequem, weil sie keine einfachen Antworten liefert. Aber gerade deshalb brauchen wir sie.
Wenn niemand mehr versucht, zwischen den Extremen Brücken zu bauen, stehen wir bald nur noch gegenüber. Und schreien. Oder schießen.
Wer heute in der Mitte steht, braucht ein dickes Fell und ein gutes Herz. Er wird von allen Seiten beschimpft, aber genau das beweist: Er ist noch auf der Suche. Und vielleicht ist das – in einer Welt voller fertiger Wahrheiten – das Menschlichste überhaupt.
Herzlichst, euer Mike Hardel