
Abschieben leicht gemacht – am besten die, die nix verbrochen haben
Deutschland. Das Land, in dem die Logik manchmal auf Urlaub geht, aber die Bürokratie nie. Hier ist es möglich, dass jemand für einen abgelaufenen Parkschein mehr Ärger bekommt als ein anderer mit einer Handvoll Strafanzeigen. Und doch ist genau das der Ort, an dem Behörden stolz verkünden, die „Abschiebequote“ steige – als sei das ein Grund, Konfetti zu werfen.
Ich weiß nicht, was mich mehr irritiert: die Tatsache, dass man das ernsthaft als Erfolg verkauft, oder die Auswahl der Menschen, die man aus dem Land schickt. Denn wenn ich mir anschaue, wer da in den Flieger gesetzt wird, erkenne ich ein Muster: Es sind fast immer die, die sich an die Regeln halten. Die morgens pünktlich in der Werkstatt stehen, ihre Kinder zur Schule bringen, ihre Briefe lesen. Kurz: Die, die greifbar sind.
Wer dagegen untertaucht, Adressen wechselt wie Unterhosen oder bei jedem Klingeln nicht öffnet, hat beste Chancen, lange zu bleiben. Klingt grotesk? Willkommen in der deutschen Abschiebepraxis.
Der bequeme Weg zur großen Zahl
Ich habe oft den Eindruck, dass die deutsche Abschiebepolitik nach dem Motto funktioniert: „Mach’s dir einfach – aber verkauf es als harte Arbeit.“
Denn seien wir ehrlich: Einen gut integrierten Azubi aus einer gemeldeten Wohnung zu holen, ist kein Akt der Härte, sondern der Bequemlichkeit. Der steht morgens um 6 Uhr auf, um die Backstube aufzusperren. Man weiß, wo er wohnt, wann er zur Arbeit geht. Er ist planbar – und damit perfekt geeignet, die Statistik nach oben zu treiben.
Im Gegensatz dazu gibt es Leute, die seit Jahren immer wieder polizeilich auffallen, aber keine feste Adresse haben. Die kennen den Trick: unsichtbar bleiben. Für die braucht es Fahndungen, Einsatzteams, vielleicht sogar eine Observation. Das kostet Geld. Und Zeit. Und Zeit ist das Einzige, was Behörden nicht gern investieren, wenn sie unter politischem Druck stehen.
Also wird der einfache Fall bevorzugt. Die große Zahl entsteht, weil man die Leichtesten auswählt. Auf dem Papier sieht das dann nach konsequenter Politik aus. In Wahrheit ist es das Gegenteil: ein bequemes Wegschieben von Verantwortung.
Geschichten, die sich keiner traut zu erzählen
Ich habe in den letzten Jahren zu viele Geschichten gehört, die sich wie schlechte Satire lesen. Nur dass sie echt sind.
Da ist zum Beispiel der 19-jährige Jamal, der seit der Grundschule hier lebt. Er spricht perfektes Deutsch, ist im Fußballverein, hat die mittlere Reife und einen Ausbildungsvertrag. Sein Arbeitgeber sagt, er sei einer der besten Lehrlinge, die er je hatte. Eines Morgens klingelt es um fünf Uhr. Polizei. Abschiebung. Keine Vorwarnung, keine Chance, sich zu verabschieden. Ziel: ein Land, das er nur aus Erzählungen seiner Eltern kennt – und das politisch instabil ist.
Oder Leila, 24, angehende Krankenschwester. Mitten im zweiten Ausbildungsjahr, engagiert in der Kirchengemeinde, beliebt auf der Station. Auch sie wird abgeschoben. Begründung: Aufenthaltstitel ausgelaufen, kein Härtefallantrag gestellt. Dass sie in einer Branche arbeitet, in der Deutschland verzweifelt Personal sucht? Egal.
Und dann gibt es noch den anderen Typ Fall: einen Mann, mehrfach vorbestraft, kein Job, keine Ausbildung, aggressives Auftreten. Abschiebung geplant – gescheitert. Grund: Keine aktuelle Adresse, unbekannter Aufenthaltsort. Das war’s. Akte auf Wiedervorlage.
Es ist nicht so, dass die gefährlichen Fälle nicht auf der Liste stehen. Sie stehen drauf – nur ganz unten, unter einem Stapel, den niemand freiwillig anfasst.
Wenn Statistik wichtiger wird als Menschenverstand
Politik liebt Zahlen, weil sie sich so wunderbar präsentieren lassen.
„Die Zahl der Abschiebungen ist um 20 % gestiegen“, klingt nach Effizienz. Keiner fragt, wer diese Menschen waren, wie integriert sie waren oder welche Lücken sie hier hinterlassen.
Wenn die Zahl steigt, wirkt das nach außen wie eine gelungene Maßnahme. Innenminister können sich vor Kameras stellen und von „konsequenter Politik“ reden. Doch die Realität ist oft eine andere: Die Zahl steigt nicht, weil man härter gegen Straftäter vorgeht, sondern weil man die Greifbaren erwischt. Die, die keine Gefahr darstellen. Die, die ihre Termine einhalten und brav mit Behörden kooperieren.
Ich frage mich: Ist es nicht ein Armutszeugnis für einen Rechtsstaat, wenn er vor allem diejenigen sanktioniert, die sich an seine Regeln halten?
Denn was ist die Botschaft, die das sendet?
„Wenn du dich anpasst, fliegst du schneller. Wenn du dich entziehst, bleibst du länger.“
Das ist keine Abschreckung, das ist ein Handbuch für das Umgehen von Abschiebungen.
Belegbare Szenarien: Wenn Integration nicht schützt
Der Fall des 18‑jährigen Sidat aus dem Irak. Ein Klassenbester mit Notendurchschnitt 1,8, der eine Ausbildung zum medizinischen Technologen für Radiologie am Uni-Klinikum Marburg in Aussicht hatte. Und trotzdem soll er abgeschoben werden – wegen des Dublin-Verfahrens, weil die Familie zuerst in Rumänien eingereist war. Medien berichteten von Verzweiflung – ein Musterfall, wie viel deutsches Potenzial man für das Dublin-System opfert.
In Schleswig-Holstein wurden im Frühjahr 2025 mehrere gut integrierte junge Menschen trotz Ausbildung abgeschoben oder sollten abgeschoben werden. Eine Handreichung für Beratungspraxen kritisiert, dass solche Fälle „große öffentliche Anteilnahme“ erregen – zurecht.
Laut News4teachers vom 12. August 2025 verschwinden immer mehr Schulkinder, die Deutsch sprechen, integriert sind, in Vereinen aktiv – „über Nacht“. Gleichzeitig wirbt Deutschland im Ausland um Auszubildende. Du erkennst das Paradoxon: Die einen schickst du raus, die anderen importierst du. Und das ist nicht dilettantisch – das ist bitter kalkulierend.
Wirtschaftlicher Selbstmord auf Raten
Es wird noch absurder, wenn man die wirtschaftliche Seite betrachtet. Deutschland hat in fast allen Branchen Fachkräftemangel. Im Handwerk fehlen Gesellen, in der Pflege fehlen Menschen, die bereit sind, diesen Knochenjob zu machen. Schulen suchen Lehrer, Kitas suchen Erzieher. Gleichzeitig gibt es Programme, um Arbeitskräfte aus dem Ausland zu holen.
Und doch schiebt man diejenigen ab, die schon hier sind, die die Sprache sprechen, die ausgebildet werden oder schon arbeiten. Das ist nicht nur moralisch daneben – es ist wirtschaftlicher Selbstmord.
Diese Art der Politik sorgt dafür, dass wir nicht nur heute Probleme haben, sondern sie für die Zukunft fest einbetonieren. Das kann man nicht schönreden, das ist schlicht selbstverschuldet.
Das Ding is
Für mich ist diese Abschiebepraxis keine konsequente Durchsetzung des Rechts, sondern eine Mischung aus Bequemlichkeit, Symbolpolitik und schlichter Feigheit. Sie bestraft die Falschen, belohnt die, die sich entziehen, und sendet das völlig falsche Signal.
Ja, ein Staat muss das Recht haben, Menschen abzuschieben, wenn sie kein Aufenthaltsrecht mehr haben. Aber die Reihenfolge, in der das geschieht, ist entscheidend. Wer gefährlich ist, wer Gesetze bricht, wer jede Integrationschance ablehnt – der muss zuerst gehen. Alles andere ist ein Schlag ins Gesicht für diejenigen, die sich bemühen.
Dafür braucht es mehr als warme Worte. Es braucht Personal, das tatsächlich in der Lage ist, auch schwer auffindbare Personen zu ermitteln. Es braucht politische Führung, die bereit ist, auch unbequeme Fälle anzugehen. Und es braucht den Mut, der Öffentlichkeit zu erklären, dass eine hohe Zahl an Abschiebungen nichts wert ist, wenn sie die Falschen betrifft.
Sonst bleibt alles, wie es ist: Ein Land, in dem Rechtschaffenheit bestraft und Verantwortungslosigkeit belohnt wird.
Und das ist kein Land, in dem ich leben will – egal, welchen Pass ich habe.
Herzlichst, Mike
Was denkst du? Übertreibe ich – oder siehst du es genauso? Schreib’s mir in die Kommentare, ich bin gespannt.
Quellen:
Mediendienst Integration: Abschiebungen – Zahlen und Fakten
Focus Online: Fall Sidat – Azubi soll abgeschoben werden
News4Teachers: Kaltherzig und widersprüchlich – wie Deutschland integrierte Schüler abschiebt
IAB-Forum: Geduldete Menschen in Ausbildung