
Ich habe versucht, 24 Stunden nicht zu urteilen – ich musste abbrechen nach 7 Sekunden
Eine Reise ins Zentrum meines Hirns – mit Notausgang.
Ich wollte herausfinden, ob man nicht urteilen im Alltag wirklich durchhält.
Ich wollte es. Ich schwöre. Ich hatte den festen Vorsatz, einen ganzen Tag lang nicht zu urteilen. Keine spontanen Wertungen, keine inneren Kommentare wie „Was zur Hölle trägt der da?“ oder „Wer wählt denn sowas?“ – einfach nur da sein. Beobachten. Buddha spielen. Denken ohne Schublade. Ein mentaler Spaziergang durch die Welt der bedingungslosen Akzeptanz.
Das Problem: Ich begann zu urteilen, bevor ich überhaupt aufgestanden war.
Mein erster Gedanke beim Aufwachen war: „Wie kann ein Weckton so unfassbar dumm klingen?“ – dicht gefolgt von „Dienstag. Fühlt sich schon falsch an.“
Zwei Urteile in den ersten sieben Sekunden.
Danach kam das Bad. Ich stand vor dem Spiegel – und dachte: „Also das ist jetzt nicht gerade die visuelle Vollendung menschlicher Evolution.“ Zack. Urteil Nummer drei. Ging zwar komplett gegen mich, aber es war ein Urteil.
Dann das Frühstück: „Wer backt sowas? Ein Azubi auf Rachefeldzug?“
Kurz darauf der Klassiker mit dem Rückwärtseinparker und dem Blinker links. Urteil vier, fünf, sechs. Ich war raus.
7 Sekunden. Das war mein Rekord. So lange hält sonst nur mein Akku durch, wenn ich TikTok öffne.
Willkommen in der Welt der Sofort-Meinung
Wir leben in einer Gesellschaft, die auf Instant basiert. Instant-Kaffee, Instant-Nudeln, Instant-Wut und Instant-Urteilen.
Bevor wir überhaupt aufstehen, haben wir schon zwanzig Urteile gefällt. Es regnet? Widerlich. Der Kaffee ist aus? Zivilisationszusammenbruch. Die Frisur sitzt nicht? Einfach alle sind scheisse…
Wir urteilen über alles: Wetter, Kleidung, Gesichter, Facebook-Posts, politische Statements, Hunde, Hundebesitzer, deren Leinenhaltung, deren Gesprächsthemen, deren Wahlverhalten. Und natürlich über Leute, die zu viel urteilen. Es ist empörend wie Menschen Urteilen. Was stimmt mit denen denn nicht?! Nicht urteilen im Alltag klingt leicht – bis man morgens den ersten Menschen sieht.
Unser Gehirn ist ein Richter auf Koks – hyperaktiv, unreflektiert, und überzeugt von seiner eigenen moralischen Überlegenheit.
Warum nicht urteilen im Alltag so schwer ist
Was viele nicht wissen: Denken und Urteilen sind nicht dasselbe.
Denken: lang, kompliziert, nervig, verlangt Disziplin.
Urteilen: schnell, befriedigend, kostet nichts – wie ein Tweet um 2 Uhr nachts.
Beispiel gefällig?
Du liest: „Er ist AfD-Mitglied.“ – Boom: Rechter. Nein, garantiert gesichert rechtsextrem!
Du liest: „Sie ist Aktivistin.“ – Boom: Linke. Nein, garantiert linksextrem!
Du liest: „Sie ist Veganerin.“ – Boom: Moralapostel. Nein, garantiert eine videodrehende Militante!
Du liest: „Sie hat drei Kinder von drei Männern.“ – Boom: RTL-II-Klientel.
Wir denken nicht mehr. Wir reagieren. In Schablonen. In Vorurteilen. In Memes.
Wie wir dahingehend gesteuert werden, habe ich auch in einem verwandten Artikel geschrieben. → Link zu: Und Gott sprach: ‚Lies den Faktencheck‘
Die Gesellschaft im Urteilskoma
Schau dich um: Talkshows sind keine Debattenräume, sondern moralische Sandkastenkämpfe mit Untertiteln.
„Anne Will“ ist das neue „Guilty or Not Guilty“. Nur ohne Richterrobe, aber mit Betroffenheitsblick.
Soziale Medien? Ein einziges Dauerfeuer an Meinungs-Explosionen.
Man nennt es „Diskurs“, meint aber „Emotionales Rülpsen mit Hashtag“.
Kommentare unter Nachrichtenartikeln bestehen zu 92 % aus:
- „Was für ein Dreck.“
- „Wacht endlich auf!“
- „Typisch linksgrünversifft!“
- „Typisch Nazi!“
- „Das ist doch alles inszeniert!“
Und das Schöne ist: Alle fühlen sich im Recht. Egal wie absurd, jeder ist überzeugt, dass er im Besitz der absoluten Wahrheit ist – unterstützt durch drei Google-Treffer und ein YouTube-Video mit schlechter Tonqualität.
Moral ist die neue Mode – passt aber niemandem
Früher konnte man sich durch Kleidung differenzieren. Heute durch Haltung. Die richtige Haltung ist das neue Chanel. Nur billiger – und aggressiver.
Wer nicht regelmäßig Haltungsbeiträge auf Instagram postet, wird automatisch als gefährlich eingestuft.
Kein Regenbogen im Profil? Homo-feindlich.
Kein Ukraine-Emoji? Putinfreund.
Kein Statement zur Lage in Gaza? Herzloser Faschist.
Und wehe, du sagst mal „Ich weiß nicht genug über das Thema“ – dann ist es vorbei. Dann bist du raus. Dann kannst du gleich bei Telegram einen Kanal eröffnen und deinen Aluhut zurechtrücken. Ich habe einen Telegramkanal und der Aluhut wurde mir tatsächlich auch schon angeboten, aufgrund meines Verschwörer-Blogs den ich betreibe.
Ein zweiter Selbstversuch: Nachrichten ohne Urteil
Ich gab mir eine zweite Chance. Ich schaltete die 20-Uhr-Nachrichten ein – mit dem Ziel: nur hören, nicht werten.
Die Herausforderung, nicht zu urteilen im Alltag, ist größer als gedacht.
19:59 Uhr: Tagesschau beginnt.
20:01 Uhr: „Die Bundesregierung hat beschlossen…“ – Ich: Aha. Was für eine Glanzidee hat der Kindergarten jetzt wieder.
20:03 Uhr: „Die AfD liegt in Umfragen bei…“ – Ich: Na klar. Logisch. Wenn man den Rest so gestaltet.
20:05 Uhr: „Im Nahen Osten…“ – Ich: Oh bitte. Nicht schon wieder die moralische Einseitigkeitslotterie.
Ich hielt keine keine Minute durch. Mein Gehirn war ein Richter mit Dauerakkreditierung. Und das Urteil lautete immer: „Unfähig. Gefährlich. Dumm. Ich hätte es besser gemacht.“
Warum urteilen wir so viel?
Weil es geil ist. Urteilen ist wie Snacken für den Verstand. Es gibt uns Struktur. Es macht uns überlegen. Und es spart unfassbar viel Energie.
Wer pauschal urteilt, muss nicht mehr nachdenken. Wer alles einordnet, braucht keine Zweifel.
Zweifel sind eh was für Philosophie-Studenten und depressive Intellektuelle. Der moderne Mensch hat keine Zeit für Zwischentöne.
Hinzu kommt: In einer Welt voller Unsicherheit gibt uns das Urteilen das Gefühl von Kontrolle. Wenn ich weiß, dass der SUV-Fahrer ein empathieloses Arschloch ist, dann muss ich nicht mehr darüber nachdenken, ob ich vielleicht selber einer wäre – wenn ich mir einen leisten könnte.
Das Problem ist nicht das Urteil – sondern die Reflexgeschwindigkeit
Werten ist menschlich. Auch Jesus hatte wahrscheinlich gedacht: „Was trägt Judas da eigentlich für Sandalen?“
Aber das Urteilen im Sekundentakt, ohne Kontext, ohne Fakten, ohne Zweifel – das macht kaputt.
Wir haben vergessen, dass man auch richtig liegen kann – und trotzdem arrogant ist.
Dass man eine Meinung haben darf – aber sie nicht unbedingt sofort ins Netz schreien muss.
Und dass der Mensch mehr ist als seine Äußerung im Affekt.
Der Blick in den Spiegel – mit Mimik und Urteil
Nach dem gescheiterten Experiment stand ich wieder vor dem Spiegel.
Ich urteilte über mein Gesicht.
Dann über meine Müdigkeit.
Dann über meine Neigung, ständig zu urteilen.
Ein innerer Monolog begann:
„Warum kannst du nicht mal still sein?“
„Warum musst du immer alles kommentieren?“
„Warum kannst du die Welt nicht einfach mal lassen, wie sie ist?“
Antwort: Weil ich Mensch bin. Kein Möbelstück.
Das Ding is:
Wir urteilen, weil wir denken – und manchmal denken wir, obwohl wir urteilen.
Das Problem ist nicht das Urteilen selbst. Es ist die Reflexhaftigkeit. Die Pauschalisierung. Die Lust am schnellen Einordnen.
Wir haben die Urteilskraft ersetzt durch Urteilshast.
Aber: Urteilen kann auch bewusst, langsam, differenziert sein. Und das ist genau die Art von Urteil, die eine freie Gesellschaft braucht. Nicht, um Menschen zu verurteilen – sondern um Argumente zu bewerten.
Wenn wir uns wieder angewöhnen, vor dem Urteil kurz zu zögern, uns selbst zu hinterfragen, vielleicht sogar den Gedanken zuzulassen, dass wir auch mal falsch liegen, dann retten wir nicht die Welt. Aber vielleicht das nächste Gespräch.
Oder wenigstens unseren eigenen Kommentar unter dem nächsten Artikel. Und falls es im Artikel untergangen sein sollte, ich spreche auch mich an. Wenn wir lernen, nicht zu urteilen im Alltag, können wir mehr zuhören als reagieren.
Herzlichst, Mike
Diskutiere gern mit – urteilsfrei oder nicht. Aber bitte mit Nachdenken.
Wie tief unsere Denkmuster sitzen, zeigt auch der Artikel „Meine Vorurteile sind mir peinlich!“ auf Psychologie Heute.
Wer verstehen will, wie Vorurteile entstehen und wirken, findet im Spektrum-Lexikon Artikel über Vorurteile hilfreiche Erklärungen.