
Es ist 20:15 Uhr in Deutschland. Die Nation sitzt gebückt vor dem Flachbildschirm, denn niemand denkt mehr selbst – wozu auch, wenn das ZDF liefert? Die Fernbedienung in der einen, das moralische Überlegenheitsgefühl in der anderen Hand. Der Puls? Ruhig. Das Hirn? Im Standby. Gleich beginnt Maybritt Maischberger oder Markus Lanz, je nachdem, welche Meinung man sich heute leihen möchte.
Denn wozu selbst denken, wenn der öffentlich-rechtliche Gehirnverleih 24/7 geöffnet hat?
Gehirn aus, Lanz an – Willkommen im Denkballett
Früher las man Bücher. Heute guckt man Talkshows. Früher musste man eigene Gedanken entwickeln. Heute genügt es, wenn man sagen kann: „Also was die Frau Illner gestern gesagt hat, das fand ich schon sehr differenziert.“ Das Wort „differenziert“ versteht man zwar nicht, aber es klingt, als hätte man sich eine Meinung gebildet – dabei hat man sie nur abgeholt.
Und zwar kostenlos, finanziert von deinem Rundfunkbeitrag. Herzlichen Glückwunsch. Du besitzt jetzt eine zertifizierte Meinung mit Sendungsbewusstsein.
Meinung to go – jetzt auch mit Applausgarantie
Wer sich seine Weltsicht gerne wie einen Latte Macchiato bestellt – mit extra viel Schaum und ohne jede Bitterkeit –, der ist bei deutschen Talkshows bestens aufgehoben. Die Regeln sind einfach:
1. Ein Thema, das man für wichtig hält, solange es im Titel steht.
2. Drei Gäste, von denen zwei exakt dasselbe sagen und einer fürs Anbrüllen da ist.
3. Eine Moderatorin, die am Ende tief betroffen schaut und sagt: „Das war heute eine sehr emotionale Runde.“
Und du sitzt davor, mit dem Gefühl, irgendetwas gelernt zu haben. Dabei hast du nur zugesehen, wie Meinung im Akkord hergestellt wurde.
Empörung ist die neue Aufklärung
Früher war Denken anstrengend. Heute ist Empörung effizienter. Du musst nichts verstehen, nur wissen, wen du doof finden sollst. Ein bisschen wie Pokémon – nur dass du statt Pikachu eben „die Rechten“, „die Klimaleugner“, „die Querdenker“ oder „den Putin-Versteher“ fangen musst. Wer mehr hasst, gewinnt.
Und wehe, du denkst anders. Dann bist du entweder ein Nazi, ein Spinner oder – noch schlimmer – jemand, der beide Seiten verstehen will. So jemand ist gefährlich. Der stört die Sendung.
Faktenchecks: Wenn die Wahrheit mal wieder stört
Natürlich darfst du heute alles sagen. Solange es ein zertifizierter Faktencheck abgesegnet hat. Und wenn du fragst, wer den Faktencheck checkt – dann bist du verdächtig. Dann glaubt man dir vermutlich auch nicht, dass die Erde rund ist oder dass Politiker nicht grundsätzlich Gutes wollen.
Die neue Wahrheit ist nicht, was stimmt. Sondern was gesendet wurde. Der Unterschied? Früher war die Realität kompliziert. Heute ist sie moderiert.
Bildung war gestern – Haltung reicht
Warum sollte man sich noch Wissen aneignen, wenn man Haltung zeigen kann? Haltung ist das neue Latinum. Sie ersetzt Bildung, Logik, Reflexion und Diskussion. Wer Haltung hat, braucht keine Argumente mehr. Und wer keine Haltung hat, kann ja bei Reichelt-TV kommentieren, wie doof die öffentlich-rechtlichen Medien sind.
Im Übrigen: Wer heute noch wirklich nachdenkt, hat entweder zu viel Zeit oder bald kein Konto mehr auf Instagram.
Niemand denkt mehr selbst – auch nicht in Deutschland
Wir leben in einem Land, in dem man mit einem brennenden Auto durch Berlin fahren kann, ohne dass es jemand hinterfragt – solange es gendergerecht kommentiert wird. Wo man über 80 Geschlechter diskutiert, aber keine zwei Meinungen aushält. Wo man Bücher verbrennt, weil der Autor einen Tweet falsch abgesetzt hat. Und das alles mit dem Brustton der moralischen Überlegenheit.
Wir nennen das Fortschritt.
Der Talkshow-Sozialismus: Jeder bekommt die gleiche Meinung
In der DDR musste man glauben, was in der Aktuellen Kamera lief. Heute darf man glauben, was in Anne Will läuft. Fortschritt! Und falls du dich fragst, ob es überhaupt noch eigene Gedanken gibt – ja. Aber nur bei Menschen, die aus Versehen mal den Fernseher nicht eingeschaltet haben.
Die übrigen 84 Millionen Deutsche erhalten ihre Meinung jeden Abend frisch serviert – mit Einspielfilm, Streichmusik und einem Einspieler von Klaus Kleber, der von irgendwo aus dem Faktenolymp nickt.
Wer widerspricht, ist verdächtig
Du findest also, man sollte vielleicht nicht alles glauben, was eine Talkshow sagt? Dass nicht jede Meinung mit Applaus richtig wird? Dass Demokratie vielleicht auch bedeutet, unbequeme Stimmen auszuhalten?
Vorsicht, Freundchen. Das klingt verdächtig nach Selbstdenken. Und das wird in diesem Land mit sofortigem Ausschluss vom Diskurs, drei Jahren medialer Quarantäne und einem Abo für den Tagesspiegel-Newsletter bestraft. Denk das lieber nochmal.
Das Ding is:
Wenn ein Land das Denken vollständig an Talkshows, Kolumnisten und Instagram-Zitatbilder delegiert, dann wird es irgendwann regiert – nicht mehr diskutiert.
Dann sind die Menschen nicht mehr mündig, sondern moderiert.
Dann wird Haltung zur Uniform und Abweichung zur Bedrohung.
Und dann ist es Zeit, sich zu erinnern, was es bedeutet, ein eigenes Hirn zu haben.
Nicht um anders zu denken – sondern um überhaupt zu denken.
Also schalt mal den Fernseher aus. Lösch deinen Lieblingsinfluencer. Und stell dir eine Frage, die du dir in letzter Zeit vielleicht zu selten gestellt hast:
Was denke ICH eigentlich?
Und wenn dir dabei der Kopf weh tut, ist das kein Symptom – sondern der erste Schritt zurück zur Selbstachtung.
Herzlichst, Mike
Diskutier mit – aber nur, wenn du den Text gelesen hast. Und nicht einfach, weil Lanz das Thema gestern auch hatte.