
Abitur: Die deutsche Ersatzreligion
In Deutschland braucht man keine Bibel – man hat das Abitur. Wer’s nicht hat, zählt zu den Ungläubigen. Wer’s wagt, es in Frage zu stellen, wird gesellschaftlich exkommuniziert. Und wer statt „Studium“ das Wort „Ausbildung“ in den Mund nimmt, kann gleich im Keller weiterreden – da, wo auch die Hauptschulzeugnisse liegen.
Studieren – weil der Lebenslauf hübscher ist als man selbst
Es ist doch so: Jeder Zweite studiert heute irgendwas mit Medien, Kommunikation oder „Future Mindset Management“. Die Ergebnisse sieht man bei Instagram, wenn 28-Jährige mit Bachelor in Irgendwas und 600 Followern Werbung für Zahncreme und emotionale Intelligenz machen. Währenddessen wird händeringend jemand gesucht, der weiß, wie man eine Steckdose fachgerecht anschließt, ohne Funkenflug in den nächsten Landkreis.
Hauptschule? Ja bitte! Endlich wieder echte Menschen
Die Hauptschule hat heute ungefähr das gesellschaftliche Image von Fußpilz im Freibad. Völlig zu Unrecht. Dort lernen Kinder oft viel praxisnäher, anwendungsorientierter – und das in einer Zeit, in der viele Gymnasiasten den Unterschied zwischen Zollstock und Lyrikband nur im Verdacht erahnen. Wer Hauptschule hört, denkt an Versagen. Ich denke an Menschen, die morgens pünktlich aufstehen und nicht über den Sinn des Lebens diskutieren, sondern erst mal das Waschbecken abdichten.
Realschule – das vergessene Mittelmaß
Wenn die Realschule eine Person wäre, würde sie permanent übersehen. Nicht elitär genug fürs Gymnasium, nicht schräg genug für die Hauptschule. Aber wer eine solide Ausbildung machen will, startet oft genau hier. Und das ist auch gut so. Realschüler wissen, was sie können – und noch besser: was sie nicht können. Ein Vorteil, den viele Philosophie-Studenten bis zur Promotion nie entwickeln.
Abi für alle! Und bitte mit Glitzer
Inzwischen kriegt man das Abi ja fast auf Rezept. Wer genug Projekte macht, eine gute Beziehung zur Lehrkraft pflegt und sein Deckblatt bei der Präsentation laminiert, besteht sicher. Inhalt? Zweitrangig. Hauptsache alle gleich. Und wenn dann mal jemand keine Gymnasialempfehlung bekommt, geht das Geschrei los, als hätte man dem Kind das WLAN entzogen.
Akademisierung: Wenn alle studieren, wer rettet dann den Wasserrohrbruch?
Die große Bildungsvision lautet offenbar: Alle sollen studieren. Am besten irgendwas mit „nachhaltig“, „disruptiv“ und „Purpose“. Nur dumm, dass niemand mehr da ist, um die Photovoltaik aufs Dach zu montieren, das ausgerechnet vom Umweltministerium subventioniert wird. Aber hey – dafür gibt’s bald einen Masterstudiengang in „Solarsystemberatung mit Empathie-Zertifikat“.
Handwerk: Die wahren Influencer
Während Influencer in Mallorca-Villen „Work-Life-Balance“ predigen, steht der Dachdecker bei 38 Grad auf dem Gerüst. Und weißt du was? Der hat wahrscheinlich die bessere Altersvorsorge – und weniger Burnout. Handwerker erschaffen Realität. Akademiker reflektieren sie. Man braucht beides, klar. Aber wer ernsthaft glaubt, der Maurer sei weniger wert als der Typ mit MBA und Visitenkarte in Regenbogenfarben, hat länger auf Bildungsplakaten geschlafen als erlaubt.
Zwischen Bildung und Bullshit liegt ein Kabelbinder
Wir leben in einer Zeit, in der Kinder gedrillt werden, damit sie später „irgendwas Großes“ werden. Dabei brauchen wir auch Menschen, die kleine Dinge richtig machen – zuverlässig, sauber, mit Verstand. Bildung ist nicht nur Pisa-Ranking, sondern auch Teamarbeit, Pünktlichkeit, praktisches Können. Fähigkeiten, die im Handwerk Alltag sind – und in mancher Unifachschaft wie Legenden behandelt werden.
Eltern, chillt mal!
Wenn euer Kind auf die Hauptschule kommt, atmet durch. Vielleicht wird es nicht Professor – aber vielleicht glücklich. Vielleicht erfüllt. Vielleicht einer der Menschen, denen man vertraut, wenn’s wirklich brennt. Und nicht nur im übertragenen Sinne.
Das Ding is: Wir brauchen keine Akademikerschwemme. Wir brauchen eine Gesellschaft, die Vielfalt in Bildung ernst meint – nicht nur in Broschüren. Wir brauchen echte Anerkennung für Ausbildungsberufe, für Realschüler, für Hauptschüler. Für Menschen, die etwas machen, statt nur zu reden. Und wir brauchen Eltern, die ihren Kindern wieder beibringen, dass ein solides Handwerk nicht Plan B ist – sondern Plan A für ein stabiles Leben.
Herzlichst, euer Mike Hardel
Was denkst du? Ist das Abitur überbewertet? Hatte deine Ausbildung mehr Wert als jedes Studium? Schreib’s unten rein. Wir diskutieren – gern auch mit Werkzeugtasche.
Dass sol ich mit einem abi sen ich nicht den farratreifen von meinem Kind flicken kann.
Ich bin mir sicher Du kannst alles flicken :), mehr als ein Fahrradreifen! 🙂
Hallo Mike,
Ich finde ihre Ansicht äußerst respektlos den Abiturienten gegenüber. Abitur ist nämlich nicht so einfach wie sie sich das vorstellen. Es wird Stoff von 3 Jahren abgefragt und das auf Zeitdruck. Würden sie das schaffen? Zudem wurde das Abitur in den letzten Jahren zusätzlich erschwert. Abgesehen davon das man die schriftlichen Prüfungen teilweise alle in einer Woche schreibt, wird auch noch erwartet dass man mündlich auch abliefert. Zurecht sitzen die Abiturienten gestresst in den Prüfungen und kurz vor dem Burnout es sind einfach unmenschliche Bedingungen. Stellen Sie sich mal vor sie würden 5 Stunden lang Matheptüfung schreiben. Vom Abitur hängt nämlich ihre schon geplante Zukunft ab. Stellen sie sich mal vor sie lernen über Monate den Stoff der letzten 3 Jahre von 5 Prüfungsfächern und müssen danach noch alle Klausuren gut schreiben um ihr Traumziel zu erreichen. Da kann man unter dem Leistungsdruck zusammenbrechen!
Hallo Tanja und danke für den Kommentar!
Erstmal Respekt: Wer sich so differenziert äußert und sich den Beitrag offensichtlich wirklich zu Herzen nimmt, verdient Gehör. Und ja – Sie haben völlig recht: Das Abitur ist kein Spaziergang. Es verlangt viel Disziplin, Ausdauer, Nerven – und manchmal auch eine gute Portion Schokolade. Ich bezweifle nicht im Geringsten, dass viele Abiturienten unter großem Druck stehen. Im Gegenteil: Ich thematisiere diesen Druck ja sogar – wenn auch auf eine sehr satirische Art.
Aber genau deshalb schreibe ich solche Texte: Weil ich finde, dass man über Dinge lachen darf, die eigentlich traurig sind. Weil Ironie manchmal mehr Wahrheit transportiert als ernste Appelle. Und weil man gerade in einer Leistungsgesellschaft wie unserer öfter mal den Spiegel vorhalten sollte – auch wenn der nicht immer schmeichelhaft ist.
Mein Beitrag richtet sich nicht gegen die Abiturienten selbst, sondern gegen die Art, wie wir Bildung bewerten. Ich kenne selbst genug junge Menschen, die sich kaputtlernen – nicht, weil sie dumm sind, sondern weil unser System so funktioniert: Druck erzeugt Leistung. Und manchmal Tränen.
Kurz: Ich nehme Ihren Einwand ernst. Und ich nehme mir das Recht, trotzdem zu überspitzen – damit wir anfangen, ernsthaft darüber zu diskutieren, wie krank das alles eigentlich ist.
Mit einem Augenzwinkern –
aber vollem Respekt:
Mike Hardel