
Früher glaubte ich, ein Diktator müsse mindestens eine Uniform tragen, ein Volk unterdrücken und mit einem schlecht gefütterten Hund posieren. Heute weiß ich: Die echten Diktatoren sitzen auf Gartenstühlen, streicheln Katzen und schreiben Facebook-Kommentare mit dem Brustton der moralischen Überlegenheit.
Es beginnt ganz harmlos. Jemand isst Fleisch. Zack – „Mörder“. Jemand genderfrei. Zack – „Rechtsradikal“. Jemand genderneutral. Zack – „Umerzieher“. Und ehe man sich versieht, regieren wir alle in unseren kleinen Meinungsgebieten wie Sonnenkönige mit WLAN-Anschluss: „L’État, c’est moi (Der Staat bin ich) – und das mit Sternchen oder ohne, je nach Bubble.“
Der moderne Diktator trägt Hoodie, hat eine Meinung und die feste Überzeugung, dass alle anderen falsch liegen – und zwar immer. Er duldet keinen Widerspruch, nur Applaus. Und wenn dieser ausbleibt, wird blockiert, gelöscht oder als Troll gemeldet. Der kleine Finger auf dem Bildschirm ersetzt heute das große Heer auf der Straße. Revolutionäre Ergonomie.
Meinungsfreiheit? Aber bitte in meiner Meinung.
Wir leben in einer Zeit, in der Meinungsfreiheit gefeiert wird – solange sie nicht vom Gegenüber kommt. Es ist erstaunlich: Je pluralistischer die Gesellschaft, desto enger scheint der Meinungskorridor zu werden. Wer außerhalb denkt, wird nicht widerlegt – sondern entwertet. Früher hieß es „Ich bin anderer Meinung“. Heute heißt es „Du bist gefährlich“.
Natürlich, jeder hat das Recht auf seine Meinung. Nur: Der moderne Mini-Diktator beansprucht auch das Recht, dass niemand eine andere hat. Das ist praktisch. Das ist bequem. Und das ist gefährlich.
Kaffeetassenmoral und Ampelautorität
Auch im Alltag zeigt sich unser innerer Kontrollzwang. Ich persönlich fange montags damit an, mich über Menschen aufzuregen, die beim Bäcker in der Schlange drängeln, und höre freitags damit auf, alle zu verachten, die im Park grillen. In meinem Kopf führe ich dabei einen inneren Feldzug für Ordnung, Anstand und korrektes Verhalten. Ja, ich bin Teil des Problems. Du auch.
Wir wollen das Gute – aber wehe, jemand definiert „gut“ anders. Dann wird aus Empathie Exorzismus. Wir haben nicht nur die eigene Moral entdeckt, sondern auch gleich die Lizenz zum Moralisieren. Jeder ein Inquisitor mit Bio-Siegel. Die Latte hängt tief – aber nur für andere.
Digitales Despotentum: Jeder Like ein Urteil
Soziale Netzwerke sind das Trainingslager für Mikro-Diktatoren. Hier wird geurteilt, bewertet, exekutiert – alles in Sekunden. Jemand postet einen Gedanken, der einem nicht gefällt? Disqualifizieren. Jemand zeigt Schwäche? Lächerlich machen. Jemand denkt differenziert? Verdächtig.
Die Kommentarspalten sind längst keine Orte des Diskurses mehr, sondern digitale Gerichtshöfe. Und jeder Nutzer ist Richter, Jury und Scharfrichter zugleich – ausgestattet mit einer Tastatur und einem schlechten WLAN.
Verkleidete Machtgier
Es geht nicht um Gerechtigkeit. Es geht nicht um Wahrheit. Es geht oft schlicht um Macht. Die Möglichkeit, andere zu belehren, zu demütigen, zu kontrollieren – das schmeckt uns besser, als wir zugeben wollen. Kant sprach vom kategorischen Imperativ. Wir sprechen vom kategorischen Imperator: Ich, der Richtige.
Und weil wir tief im Inneren wissen, dass wir das Richtige gar nicht exklusiv gepachtet haben, brauchen wir diese ständige Bestätigung von außen. Likes als Liebesersatz. Zustimmung als Selbstwert-Therapie. Moralisches Gehabe als digitaler Poncho gegen den kalten Wind der Selbstzweifel.
Wenn alle gleich denken, denkt keiner mehr
Ironie der Geschichte: In dem Versuch, eine tolerante Gesellschaft zu schaffen, dulden wir oft keine Abweichung mehr. Der Pluralismus wird zur Einheitsmeinung, wenn die einzige Meinung, die toleriert wird, die eigene ist.
Früher haben wir gegen Diktaturen demonstriert, heute führen wir sie in Mikroform aus – täglich, subtil, lächelnd. Es ist keine Frage der Ideologie. Rechte machen es. Linke machen es. Veganer machen es. Fleischliebhaber auch. Die Gier nach Kontrolle und Macht ist keine politische – sie ist eine menschliche Schwäche.
Was nun?
Vielleicht wäre es ein Anfang, sich selbst dabei zu erwischen. Wenn wir innerlich wieder mal die moralische Guillotine auspacken – kurz innehalten. Nachfragen. Verstehen wollen. Und: Aushalten. Dass jemand anders lebt, denkt, wählt, liebt oder auch einfach mal nichts sagt. Das ist keine Bedrohung – das ist Demokratie.
Man muss keine Meinung übernehmen, um sie stehen zu lassen. Und man muss nicht alles akzeptieren, um nicht alles zu verurteilen. Dazwischen liegt der Raum, den wir Diskurs nennen. In ihm zu leben, ist unbequem – aber frei.
Das Ding ist:
Wir alle tragen den kleinen Diktator in uns – den, der besser weiß, was gut ist, was falsch ist, was erlaubt ist. Aber Demokratie beginnt genau dort, wo wir ihn an die Leine legen. Nicht jeder Mensch, der anders denkt, ist ein Feind. Und nicht jede Meinung, die uns stört, ist gefährlich. Vielleicht ist sie einfach nur… anders. Und das muss sie dürfen. Wenn wir das aushalten, ist das keine Schwäche. Es ist Stärke. Die Stärke, in Vielfalt zu leben – ohne uns selbst zu verlieren.
Herzlichst, euer Mike Hardel
Diskutiere mit! Wie sehr kontrollieren wir einander – und wo beginnt der echte Dialog? Schreib deine Gedanken in die Kommentare. Ich freue mich auf Widerspruch.